Judoka (Lina) aus Kabul berichtet im ZDF Sportstudio am Samstag 04.09.2021 um 23.00 Uhr über Ihre Judo-Arbeit in Afghanistan.

Die Bilder die uns in den letzten Wochen aus Afghanistan erreicht haben sind an keinem spurlos vorbei gegangen. Man fragt sich, wie konnte es soweit kommen und insbesondere in welcher Geschwindigkeit sich die Situation für die Menschen dort verschlechtert hat? Wir mussten Bilder sehen, wie Menschen verzweifelt versucht haben unter Lebensgefahr ihr Land zu verlassen. Sehr viele sind dabei ums Leben gekommen.

Umso größer ist dann aber auch die Freude, wenn es in einzelnen Fällen gelingt diesen Menschen zu helfen.

Ich hatte das Privileg einer jungen Frau „Lina“ aus Kabul in den entscheidenden Stunden, aber auch schon davor zu unterstützen. Ich möchte versuchen anhand meiner Aufzeichnungen, Chat-Verläufe und auch aus meinen Erinnerungen heraus die Ereignisse so wahrheitsgetreu wie möglich aufzuschreiben.

„Lina“ hat in den letzten Jahren eine Judo-Schule für Mädchen und Frauen in Kabul geleitet. Im Laufe der Zeit hat sie dort mehrere hundert Schülerinnen unterrichtet. Daneben hat sie sich in ihrer Heimat sehr stark für Frauenrechte engagiert und hinsichtlich der neuen Machthaber in Afghanistan hat sie auch ihre Meinung geäußert. Damit stand fest, dass sie über kurz oder lang stark gefährdet ist oder wahrscheinlich sogar ihr Leben dadurch bedroht ist.

Im Vorfeld der Judo Sommerschule des DJB erzählte mir unser Abteilungsleiter Alwin Brenner vom SF Harteck München, dass er über Facebook Kontakt zu einer afghanischen Judoka hat und diese auch zur Sommerschule eingeladen ist. „Lina“ erkundigte sich bei Alwin, ob aus unserem Verein auch Teilnehmer/-innen da sind, zu denen sie im Vorfeld schon Kontakt aufnehmen könnte und die sie vor Ort etwas unterstützen. Ich hatte nichts dagegen, dass mein Kontakt weitergegeben wird und man in Sachen Judo auch mal wieder die Möglichkeit hat, etwas über den nationalen „Tellerrand“ hinaus zu schauen. Leider war sie dann in Lindow nicht dabei und ich hatte die Geschichte schon etwas aus den Augen verloren.
Einen Tag nach der Sommerschule erhielt ich eine Nachricht von „Lina“ auf meinem Handy, in der sie mich um Hilfe bat. Sie berichtete, dass sie mit Ralf Lippmann und Frank Dötsch Kontakt hatte und die Sommerschule aufgrund bürokratischer Hindernisse und einer mangelnden Impfung ohne sie stattgefunden hat. „Lina“ berichtete mir dann aus ihrer Heimat und schilderte auch ihre persönliche Situation und ihre Beweggründe, warum sie Kabul so schnell wie möglich verlassen muss. Wir tauschten uns von da an mehrmals täglich aus und überlegten, was es noch für Möglichkeiten gibt. Ich hatte zunächst vor, sie über eine persönliche Einladung und ein dazugehöriges Visum nach Deutschland zu bringen, damit sie gegebenenfalls am Ende des Aufenthalts Asyl beantragen kann. Mir war durchaus bewusst, welche rechtlichen Konsequenzen es für mich haben kann, wenn klar ist, dass kein Rückkehrwille seitens der eingeladenen Person besteht und ich den Tatbestand der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ verwirklicht hätte. Strafrechtlich und dienstrechtliche Konsequenzen hätte ich in diesem Zusammenhang und unter diesen Umständen selbstverständlich in Kauf genommen.

In den Medien wurde immer deutlicher, wie dramatisch und vor allem wie schnell sich die Machtverhältnisse in Afghanistan änderten und es wurde auch zur traurigen Gewissheit, dass der ursprünglich gefasste Plan nicht umsetzbar war.

„Lina“ und ich hielten weiterhin intensiv Kontakt über die verschiedensten digitalen Kanäle. Ich fasste daher am 12. August den Entschluss, Herrn Marius Vizer. Präsident der IJF anzuschreiben und um Unterstützung zu bitten. Zwei Tage später melde sich „Lina“ bei mir und schrieb, dass sie ein Visum und ein Flugticket für Pakistan von der IJF bekommen hat. Für den 17. August war die Flucht geplant. „Lina“ machte sich früh morgens auf den Weg zum Flughafen in Kabul. Mehrere Stunden an diesem Tag bestand kein Kontakt, aber irgendwann war klar, dass sie nicht fliegen konnte. Ich war in dieser Zeit bemüht ihr Hoffnung, Vertrauen und Mut zu machen. Der nächste Flug war dann für Donnerstag terminiert. Es begannen wieder Stunden höchster Anspannung, hoffen und bangens. Aber auch dieser Tag brachte kein glückliches Ende.

Am Abend hatten wir wieder Kontakt und „Lina“ war sehr deprimiert und ihre Angst vor der Zukunft war spürbar. Sie erzählte mir, dass sie am darauf folgenden Tag versuchen möchte, zu Fuß über die Grenze nach Pakistan zu kommen. In diesem Fall wäre das Visum der IJF vermutlich sehr hilfreich gewesen. Ich hatte sie gebeten, dass sie keine Dokumente mit sich führen sollte und auch diese auf dem Mobiltelefon löschen muss, damit sie nicht in Gefahr gerät, sollte sie von den falschen Leuten kontrolliert werden. Ich bot an, permanent online bereit zu stehen und ihr die Dokumente dann wieder per E-Mail oder Messenger zu senden. Am Freitag, 20 August erhielt ich von „Lina“ einen unerwarteten Anruf. „Can you talk with the German soldier? He don’t let me fly to germany. I am here at the military part of the airport of Kabul.“
Mir wurde in diesem Moment schlagartig klar, dass es jetzt um alles geht. Ich sagte „Lina“ gib das Telefon weiter und ich spreche mit dem Soldaten. Er meldete sich mit „Deutsche Bundeswehr Kabul!“ Ich fragte ihn warum „Lina“ nicht mitfliegen kann. Er erwiderte, dass die vorgelegten Dokumente nicht ausreichen und die Dame nicht zu Ortskräften zählt, die vorrangig ausgeflogen werden. Ihre Priorität reicht nicht aus. „Lina“ war mit einem Schreiben des DJB, das in Abstimmung zwischen Frank Dörsch, der Geschäftsstelle des DJB und mir erstellt wurde von den US-Streitkräften in den militärischen Bereich des Flughafens eingelassen worden. Für die Deutschen vor Ort war dieses Dokument nicht ausreichend. „Lina“ sollte umgehend den militärisch gesicherten Bereich wieder verlassen. Ich fragte nach, was es noch für Möglichkeiten gibt. Mir wurde mitgeteilt, dass es einer Einzelfallentscheidung des Auswärtigen Amtes in Berlin bedarf. Ich konnte den Angehörigen der Bundeswehr überreden, „Lina“ solange im gesicherten Bereich zu lassen, bis eine Entscheidung gefallen ist. Ich sicherte dem Soldaten zu, dass in den nächsten Stunden die Genehmigung zur Ausreise vorliegen wird. Während des Telefonats waren im Hintergrund Schlüssel und Schreie zu hören. Ich sagte „Lina“: „warte ich tue mein Bestes. Bleib im gesicherten Bereich und verlasse auf gar keinen Fall den Flughafen.“

Zunächst schrieb ich den Krisenstab im Auswärtigen Amt über E-Mail an. Selbiges hatte ich schon ein paar Tage zuvor getan, aber keine Rückmeldung erhalten. Wie jetzt bekannt ist kamen zum damaligen Zeitpunkt dort tausende von Hilferufen an. Auch die dazugehörige Telefonnummer führte nicht zum Erfolg, da dort immer besetzt war.
Als nächstes kontaktierte ich Frank Doetsch mit der Bitte alle Hebel in Bewegung zu setzen und alle Kontakte zu nutzen, die wir haben, um eine Entscheidung herbeizuführen. Frank teilte mit, ebenfalls an den Krisenstab zu schreiben.
Danach bat ich einen befreundeten Landtagsabgeordneten der Grünen um Hilfe. Dieser wurde ebenfalls umgehend aktiv und kontaktierte hochgestellte Persönlichkeiten auf Bundesebene seiner Partei. Auch diese schalteten sich unverzüglich ein. Gleiches versuchte ich über meine örtlichen SPD Kontakte.

Der entscheidende Kontakt kam dann jedoch – wie so oft – per Zufall zustande. Eine befreundete Judoka aus Berlin hat persönliche Beziehungen zu einer bestens vernetzten Person einer Regierungspartei. Nach der Kontaktaufnahme schaltete sich die Person aus der laufenden Bundespressekonferenz heraus ein und schickte ihre Mitarbeiter/-innen – Stab umgehend ins Auswärtige Amt, um “Lina” auf die Passagierliste zu bringen. Nach Rücksprache wurde ich gebeten, die dann stattgefundenen Vorgänge nicht öffentlich zu machen. Aber ohne den heldenhaften und uneigennützigen Einsatz dieser Person hätte “Lina” nicht ausreisen dürfen. Dafür werde ich immer dankbar sein und selbstverständlich auch “Lina”. Es begannen nun Stunden des Wartens und der Ungewissheit. Meine Aufgabe bestand von nun an darin, die unterschiedlichsten Unterstützungen zu koordinieren, Dokumente zu verteilen oder noch benötigte Informationen zu beschaffen. Daneben hielt ich den Kontakt zu “Lina”. Leider brach dieser über mehrere Stunden ab, da im Flughafen kein Internet war und ihr Telefon bei der spektakulären Flucht beschädigt wurde.

Am Samstag morgen erhielt ich endlich Nachricht von “Lina”. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl, als ich lesen durfte, dass sie in Deutschland ist. Sie erzählte mir auch, dass sie auf der Flucht ihre Schuhe verloren hatte und nur mit ganz wenigen persönlichen Dingen ins Flugzeug steigen konnte. Sie befand sich bereits im Transitbereich des Flughafens Frankfurt. Ich nahm Kontakt mit der Bundespolizei im Transitbereich auf über Linas Telefon, das zwischenzeitlich wieder funktionierte. Es wurde Auskunft über den weiteren unmittelbaren Verfahrensablauf gegeben. Ich machte mich daraufhin umgehend mit meinem Vereinskameraden Pit von München auf den Weg nach Frankfurt, um “Lina” persönlich zu begrüßen und ihr die ersten dringend benötigten Dinge zu übergeben. Leider befand sie sich immer noch im Transitbereich, den wir nicht betreten durften. Auch erklärte sich die Bundespolizei nicht bereit, die mitgebrachte Kleidung, Schuhe und Mobiltelefon zu überreichen. Darüber hinaus wurde mitgeteilt, dass nur direkte Angehörige Zugang bekommen und alle anderen direkt in die Erstaufnahme-Einrichtung nach Brandenburg gebracht werden.

Ich teilte im Anschluss meine Sachstand an den DJB mit. Dieser kümmerte sich fortan um “Lina” vor Ort in Brandenburg.

Ich möchte daher meinen allerherzlichsten Dank an Daniel Keller, Frank Dötsch und sein Team beim DJB und allen anderen an dieser Stelle ausdrücken. Selbstverständlich auch an Benjamin Golze und seiner Frau vom KSC ASAHI Spremberg, die seitdem die direkte Betreuung vor Ort übernehmen und sich täglich um “Lina” kümmern. Mein ganz besonderer Dank geht jedoch an die Person, die ich nicht nennen soll. Nur soviel: “ohne dich hätten wir es nicht geschafft, DANKE dafür von ganzem Herzen”
Mein Respekt und meine höchste Achtung gilt jedoch „Lina“. Sie ist für mich ein großes Vorbild

Text: Christian Zeilermeier / Bild: Lina