Diese Rede wurde von Prof. Jigoro Kano, dem Begründer des Judo, am 10 August 1932 an der University of Southern California in Los Angeles gehalten, anlässlich der 11. Olympiade bei der über 200 Judoschüler überwiegend aus der Region um Los Angeles mit Jigoro Kano eine Judo Demonstration vorführten. Es war das erste mal, das Judo an den olympischen Spielen gezeigt wurde.
Der Zweck dieser Zeilen ist, Ihnen in den Hauptzügen zu erklären, was Judo ist. In unserer Ritterzeit gab es viele militärische Übungen wie Fechten, Bogenschießen, Speerwerfen usw. Unter diesen wird eine Jiu-Jitsu genannt, eine zusammengesetzte Übung, hauptsächlich bestehend aus den Arten des Kampfes ohne Waffen, wobei gelegentlich aber auch Dolche, Schwerter und andere Waffen benutzt wurden. Die Arten des Angriffs waren meist Werfen, Schlagen, Würgen, Stoßen oder Treten des Gegners, den Gegner niederhalten, Arme oder Beine des Gegners biegen oder verdrehen, um Schmerzen oder Bruch zu verursachen. Der Gebrauch von Schwertern und Dolchen wurde auch gelehrt. Wir hatten auch zahlreiche Wege, um uns gegen solche Angriffe zu wehren. Diese Übungen in einfachster Form bestanden sogar in unserem mythologischen Zeitalter. Aber die systematische Unterweisung, als eine Kunst, reicht erst 350 Jahre zurück.
In meiner Jugend studierte ich diese Kunst bei drei hervorragenden Meistern dieser Zeit. Der grösste Nutzen stammte von diesem Studium, es lehrte mich mit dem Gegenstand ernsthafter umzugehen und 1882 eröffnete ich eine eigene “Schule zum Studium des Weges”. Die wirkliche Bedeutung des “Wegs” ist der Begriff des Lebens. Ich nannte den Gegenstand den ich lehrte “Judo” anstatt “Jiu-Jitsu”. Zuerst will ich Ihnen die Bedeutung dieser Worte erklären. “Jiu” bedeutet sanft oder nachgeben, “Jitsu” Kunst oder Kunstgriff; und “do” Weg oder Grundsatz; so bedeutet “Jiu-Jitsu”, eine Kunst erst nachzugeben um schliesslich den Sieg zu erringen; während Judo bedeutet den Weg oder den Grundsatz desselben.
Lassen Sie mich nun erklären, was mit dieser Sanftheit oder dem Nachgeben wirklich gemeint ist. Nehmen wir an, wir messen die Stärke eines Mannes mit Einheiten von eins. Zum Beispiel die Stärke eines vor mir stehenden Mannes wird von 10 Einheiten dargestellt, während meine Stärke, die geringer ist, nur 7 Einheiten darstellt. Wenn er mich nun mit seiner ganzen Kraft stösst, werde ich natürlich zurückgestossen oder hingeworfen, auch wenn ich meine ganze Kraft gegen ihn nutze. Dies würde geschehen, obgleich ich meine ganze Kraft gegen ihn wenden würde, Kraft gegen Kraft gemessen. Aber, wenn ich anstatt mich ihm entgegenzustellen, nachgebe und meinen Körper gerade soviel zurückziehe, wie er mich gestossen hat und dabei das Gleichgewicht halte, dann würde er sich natürlich vorwärtsneigen und dabei sein Gleichgewicht verlieren.
In dieser neuen Stellung, wird er so schwach (nicht in wirklicher physischer Stärke, sondern angesichts seiner ungeschickten Stellung), dass seine Stärke in diesem Augenblick nur 3 Einheiten darstellt statt seiner normalen 10 Einheiten. Währenddessen erlange ich, immer Gleichgewicht haltend, meine volle Kraft wieder, die ursprünglich 7 Einheiten darstellte. Hierdurch bin ich augenblicklich in einer günstigen Lage, und ich kann meinen Gegner mit nur halber Kraft schlagen, das ist die Hälfte von 7 oder 3 1/2 gegen 3. Dies lässt die Hälfte meiner Kraft für andere Zwecke verfügbar. Falls ich grössere Kraft als mein Gegner hätte, könnte ich ihn natürlich zurückstoßen. Aber auch in diesem Falle, wenn ich ihn zurückstoßen wollte und auch die Kraft dazu hätte, würde ich, um mit meiner Energie besser Haus zu halten, zuerst nachgegeben haben.
Dies ist ein einfaches Beispiel dafür, wie ein Gegner durch Nachgeben geschlagen werden kann. Andere Beispiele mögen folgen. Angenommen mein Gegner versucht, meinen Körper zu drehen in der Absicht mich zu Fall zu bringen. Würde ich ihm widerstehen, würde ich bestimmt zu Boden geworfen werden, weil meine Kraft nicht ausreicht, ihm Widerstand zu leisten. Aber wenn ich andererseits ihm Raum gebe und meinen Gegner noch ziehe, kann ich ihn sehr leicht absichtlich werfen, besonders wenn ich dabei zu Boden gehe.
Ich will noch ein anderes Beispiel geben. Angenommen wir gehen einen Bergpfad entlang, an einer Seite ein Abgrund und dieser Mann springt plötzlich auf mich zu und versucht, mich in den Abgrund zu stürzen. In diesem Falle könnte ich es nicht verhindern, in den Abgrund geworfen zu werden, auch wenn ich es versuchte ihm zu widerstehen, während im Gegenteil; wenn ich ihm nachgebe, im selben Augenblick meinen Körper wende und meinen Gegner zum Abgrund ziehe, so kann ich ihn leicht über den Rand werfen und zur selben Zeit meinen Körper auf dem Boden in Sicherheit bringen.
Ich kann noch beliebig viele Beispiele anführen, aber ich denke, die, die ich gegeben habe, genügen, damit sie verstehen, wie ich einen Gegner durch Nachgeben besiegen kann, und da gibt es so viele Beispiele im Jiu-Jitsu-Kampf, in welchem dieser Grundsatz angewendet ist, und weswegen der Name Jiu-Jitsu (das ist sanft oder nachgeben) zum Namen dieser ganzen Kunst geworden ist. Aber, genau gesprochen, das wirkliche Jiu-Jitsu ist etwas mehr. Die Wege, den Sieg über einen Gegner durch Jiu-Jitsu zu erringen, sind nicht darauf beschränkt, den Sieg durch Nachgeben zu erringen. Manchmal schlagen, stoßen und würgen wir auch im körperlichen Kampf, aber im Gegensatz zum Nachgeben sind dies verschiedene Formen von positivem Angriff. Manchmal hält der Gegner das Handgelenk fest. Wie kann man sich freimachen, ohne seine Kraft gegen des Gegners Griff anzuwenden? Dasselbe kann man sagen, wenn jemand einen Gegner vom Rücken aus angreift. Wenn also der Grundsatz des Nachgebens nicht alle Kniffe des JiuJitsu-Kampfes erklären kann, gibt es dann überhaupt einen Grundsatz, der wirklich das ganze Feld deckt? Ja, den gibt es, das ist der Grundsatz des möglichst wirksamen Gebrauchs von Geist und Körper und Jiu-Jitsu ist nichts anderes als die Anwendung dieses alldurchdringenden Grundsatzes anzugreifen und zu verteidigen.
Kann dieser Grundsatz auch auf anderen Gebieten menschlichen Wirkens angewandt werden? Ja, denselben Grundsatz kann man anwenden zur Vervollkommnung des menschlichen Körpers, um ihn kräftig, gesund und nützlich zu machen, hiernach zu handeln bedeutet die körperliche Erziehung. Er kann auch angewandt werden zur Vervollkommnung der intellektuellen und moralischen Kraft und bedeutet dann die geistige und moralische Erziehung. Er kann ebenso angewandt werden zur Vervollkommnung von Kost, Kleidung, Wohnung, gesellschaftlichen Verkehr und Geschäftsgebaren und bedeutet Studium und Übung auf den Wegen des Lebens. Ich gab diesem alles durchdringenden Grundsatz den Namen „Judo“. So ist Judo im weiten Sinne ein Studium und eine Übungsmethode für Geist und Körper wie auch für, die Vorschriften des Lebens und Geschäfts.
Daher kann Judo, in einer von diesen Formen studiert und geübt werden mit Angriff und Verteidigung als Hauptziel. Bevor ich den Kodokan eröffnete, wurden diese Angriffs- und Verteidigungsformen studiert und geübt nur unter dem Namen Jiu-Jitsu, verschiedentlich auch genannt Taijutsu, das bedeutet, die Kunst den Körper zu handhaben oder Yawara, die sanfte Handhabung. Aber ich kam zu der Einsicht, dass das Studium dieses alles durchdringenden Grundsatzes wichtiger ist als das blosse Üben des Jiu-Jitsu, weil das richtige Verstehen dieses Grundsatzes uns nicht nur befähigt, ihn in allen Lebenslagen anzuwenden, sondern auch grosse Dienste leistet beim Studium der Kunst des Jiu-Jitsu selbst.
Man kann diesen Grundsatz nicht nur so erfassen, wie ich es tat. Man kann zu demselben Schluss kommen durch philosophische Betrachtungen der täglichen Geschehnisse oder durch abstrakte philosophische Ergründung. Aber als ich anfing zu lehren, hielt ich es für ratsam, demselben Verlauf zu folgen, den ich beim Studium dieser Sache nahm, denn dadurch konnte ich den Körper meiner Schüler gesund, kräftig und nützlich machen. Gleichzeitig konnte ich ihnen helfen, diesen überaus wichtigen Grundsatz zu begreifen. Aus diesem Grund begann ich die Unterweisung im Judo mit Übungen in Randori und Kata. Randori bedeutet freie Übung und wird unter den Bedingungen des wirklichen Kampfes gehandhabt. Es umfasst Stoßen, Würgen, den Gegner niederhalten und Arme oder Beine biegen und verdrehen. Die zwei Kämpfenden können jeden beliebigen Kniff anwenden, jedoch vorsichtig, um sich gegenseitig nicht zu verletzen, und müssen den Regeln des Judo betreffend Höflichkeitsformen gehorchen.
Kata, was wörtlich Form bedeutet, ist ein regelmässiges System von vorbereiteten Übungen, wie Stoßen, Schlagen, Werfen, Stechen usw. nach Regeln, so dass jeder Kämpfer vorher genau weiss, was sein Gegner tun wird. Das Üben von Stoßen, Schlagen, Werfen und Stechen wird in Kata gelehrt und nicht in Randori, denn würden sie in Randori angewandt, könnte leicht ein Unfall entstehen, während in Kata nicht so leicht Unfälle entstehen können, weil alle Angriffe und Abwehren vorbereitet sind.
Randori wird in verschiedenen Formen geübt. Ist das Ziel einfach ein Üben der Angriffs- und Verteidigungsformen; kann die Aufmerksamkeit besonders gerichtet werden auf das Üben der wirksamsten Mittel beim Werfen, Siegen oder Verdrehen, ohne dabei besondere Absicht auf die Entwicklung der Körper, oder die geistige und moralische Kultur, zu legen.
Randori kann auch studiert werden mit physischer Erziehung als Hauptziel. Ich habe schon gesagt, alles muss mit dem Grundsatz von grösster Wirksamkeit verrichtet werden. Wir wollen nun sehen, wie die bestehenden Systeme der körperlichen Erziehung diese Prüfung bestehen. Im ganzen genommen, ist Athletik wohl nicht die ideale Form der körperlichen Erziehung, denn jede Bewegung ist nicht zur allgemeinen Ertüchtigung des Körpers gewählt, sondern um irgendein anderes bestimmtes Ziel zu erreichen. Und weiter, verlangen wir eine besondere Ausrüstung und lassen eine Anzahl Personen daran teilhaben, so ist diese Athletik eine Übung für nur eine bestimmte Gruppe von Menschen und nicht ein Mittel, die physischen Bedingungen einer ganzen Nation zu verbessern. Dies trifft zu beim Boxen, Ringen und verschiedenen Sorten militärischer Übungen, die in der ganzen Welt geübt werden. Dann mögen die Leute fragen: „Ist Gymnastik nicht eine ideale Form von nationaler körperlicher Ertüchtigung?“
Darauf antworte ich, dass es wohl eine ideale Form von körperlicher Erziehung ist, die es ermöglicht, den ganzen Körper zu entwickeln und nicht unbedingt besondere Ausrüstung und Teilnehmer verlangt. Aber bei der Gymnastik mangelt es an sehr wichtigen Dingen, die für die physische Erziehung einer ganzen Nation wesentlich sind.
Diese Mängel sind:
1. Verschiedene gymnastische Bewegungen haben keinen Sinn und sind natürlich ohne Interesse,
2. Kein weiterer Nutzen wird durch das Üben gewonnen,
3. Erlangung von besonderer Geschicklichkeit kann bei der Gymnastik nicht so sehr erreicht werden wie bei manchen anderen Übungen.
Von diesem kurzen Überblick über das ganze Gebiet der körperlichen Erziehung kann ich sagen, dass bis jetzt noch keine ideale Form erfunden ist, die die notwendigen Bedingungen dazu erfüllt. Diese ideale Form kann nur erschaffen werden durch ein Studium begründet auf grösster Wirksamkeit. Um all diese Bedingungen und Forderungen zu erfüllen, muss ein System erfunden werden, das als erste Überlegung die allgemeine Entwicklung des Körpers hat wie in dem Fall der Gymnastik. Das nächste wäre, die Bewegungen müssten einen Sinn haben, so dass sie mit Interesse ausgeführt würden. Dann wieder, die Bewegungen müssen so sein, dass sie keinen grossen Raum, keine besondere Kleidung oder Ausrüstung verlangen. Weiterhin müssen sie so sein, dass sie sowohl einzeln als auch in Gruppen ausgeführt werden können.
Dies sind die Bedingungen und Forderungen für ein befriedigendes System zur körperlichen Erziehung einer ganzen Nation. Erst ein System, das diese Anforderungen erfolgreich erfüllt, kann als Programm zur körperlichen Erziehung, begründet auf den Grundsatz grösster Wirksamkeit, in Erwägung gezogen werden.
Ich habe diesen Gegenstand lange Zeit studiert und habe zwei Formen gefunden, welche wohl alle diese Anforderungen erfüllen.
Eine Form nenne ich die „darstellende Form“. Dies ist der Weg, Gedanken, Ideen und Gemütserregung durch Bewegungen der Glieder, des Körpers und des Kopfes darzustellen. Tanzen wäre eines dieser Beispiele, aber Tanzen ist nicht zum Zweck körperlicher Erziehung erfunden und darum kann man nicht sagen, dass es diese Forderungen erfüllt. Aber es ist möglich, verschiedene Arten von Tänzen zu erfinden, die für Menschen verschiedenen Geschlechts und geistiger und körperlicher Bedingungen passend, die moralische Gedanken und Gefühle ausdrücken, so dass, verbunden mit der Ausbildung der geistigen Seite einer Nation, auch der Körper entwickelt werden kann in einer Art, die für alle geeignet ist.
Diese darstellende Form, nehme ich an, ist auf die eine oder andere Art üblich in Amerika und Europa, Sie werden wissen, was ich meine, darum will ich dies nicht weiter behandeln. Dann gibt es noch eine andere Form, die ich „Angriffs- und Abwehr Form“ nenne. In dieser habe ich verschiedene Methoden des Angriffs und der Abwehr vereinigt, und zwar so, dass das Ergebnis zu einer harmonischen Entwicklung des ganzen Körpers führt. Die gewöhnlichen Methoden des Angriffs und der Abwehr, wie sie in Jiu-Jitsu gelehrt werden, kann man nicht als ideal für die Entwicklung des Körpers bezeichnen, darum habe ich sie so vereinigt, dass sie die notwendigen Bedingungen zur harmonischen Entwicklung des Körpers erfüllen. Man kann sagen, dies erfüllt zwei Zwecke:
1. körperliche Entwicklung,
2. Übung in der Kunst des Kampfes.
Da von jeder Nation verlangt wird, dass sie für ihre nationale Verteidigung sorgt; so muss jeder Einzelne sich selbst verteidigen können. In diesem Zeitalter der Aufklärung würde niemand daran denken sich auf einen Angriff anderer Personen oder anderer Nationen vorzubereiten oder um anderen Gewalt anzutun. Aber Verteidigung aus dem Grunde der Gerechtigkeit und Menschlichkeit darf niemals von einer Nation oder einem Einzelwesen vernachlässigt werden.
Diese Methode körperlicher Erziehung in Angriffs- und Verteidigungsformen teilte sich in zwei Arten von Übungen: die eine ist eine Übung für einen einzelnen, die andere eine Übung mit einem Gegner. Durch meine Erklärungen haben Sie ohne Zweifel verstanden; was ich meine mit körperlicher Erziehung begründet auf dem Grundsatz von grösster Wirksamkeit. Obgleich ich unbedingt verteidige, dass die körperliche Erziehung einer ganzen Nation von diesem Grundsatz geleitet werden muss, lege ich gleichzeitig keinen geringeren Nachdruck auf Athletik und verschiedene kriegerische Übungen. Wenn sie auch nicht als passend für die körperliche Ertüchtigung einer ganzen Nation erachtet werden können, weil sie eben nur zur Pflege von einzelnen Gruppen von Personen dienen, haben sie doch ihren besonderen Wert und ich will niemand davon abschrecken, besonders nicht von den Randori-Übungen im Judo.
Ein grosser Wert liegt bei Randori in der Fülle der Bewegungen, die tauglich zur körperlichen Ertüchtigung sind. Ein anderer Wert liegt darin, dass jede Bewegung einen Zweck hat und mit Überlegung ausgeführt wird, während bei gewöhnlicher Gymnastik die Bewegungen des Interesses entbehren. Das Ziel eines systematischen körperlichen Trainings im Judo ist nicht nur den Körper zu entwickeln, sondern den Mann oder die Frau in den Stand zu setzen, eine vollkommene Kontrolle über Geist und Körper zu haben und so auf jedes Ereignis vorbereitet zu sein, sei es ein einfacher Zwischenfall oder ein Angriff durch andere.
Obgleich Übungen im Judo hauptsächlich zwischen zwei Personen in einem extra für diesen Zweck hergerichteten Raum ausgeführt werden, ist dies nicht immer notwendig. Sie können von einer Gruppe oder von einer einzelnen Person auf dem Spielplatz oder in einem gewöhnlichen Raum geübt werden. Man denkt im allgemeinen, im Randori zu fallen ist mit Schmerz und manchmal mit Gefahr verbunden. Aber eine kurze Erklärung, wie das Fallen gelehrt wird, genügt um zu verstehen, dass es dabei keine Schmerzen oder Gefahr gibt.
Ich will nun von der intellektuellen Seite des Judo sprechen. Geistiges Training beim Judo kann sowohl beim Kata als auch beim Randori geschehen, aber erfolgreicher bei dem letzteren. Da Randori ein Kampf zwischen zwei Personen ist, die alle Mittel benutzen und den vorgeschriebenen Regeln des Judo gehorchen, müssen beide Gegner äusserst aufmerksam sein und sich bemühen schwache Punkte des Gegners zu erkennen, um anzugreifen sobald sich eine Gelegenheit bietet. Solch eine Gewohnheit des Geistes, Angriffsmittel zu finden, macht den Schüler ernst und aufrichtig, vorsichtig und überlegend in seinem ganzen Wesen. Gleichzeitig wird man geübt in schnellem Entschluss und sofortigem Handeln, denn wenn man beim Randori sich nicht schnell entschliesst und sofort handelt, verliert man die Gelegenheit sowohl zum Angriff wie zur Verteidigung.
Dann wieder kann der Kämpfende beim Randori nicht sagen was der andere tun wird, und so muss man immer auf einen plötzlichen Angriff des anderen vorbereitet sein. Ist man hieran gewöhnt, so entwickelt man einen hohen Grad von geistiger Gemütsruhe. Übungen in Aufmerksamkeit und Beobachtung in der Übungshalle entwickeln natürlich diese Fähigkeit, die im täglichen Leben so nützlich ist.
Um Mittel zum Sieg zu finden sind Übungen der Kraft der Vorstellung, der Folgerung und des Urteils unentbehrlich und diese Fähigkeit wird beim Randori entwickelt. Andererseits ist das Studium des Randori das Studium der Beziehungen zwischen zwei kämpfenden Parteien; Hunderte von wertvollen Aufgaben stammen aus diesem Studium, aber ich will mich im Augenblick damit begnügen, Ihnen ein paar Beispiele zu geben. Beim Randori lehren wir den Schüler immer nach dem grundlegenden Prinzip des Judo zu handeln, ganz gleich wie körperlich unterlegen ihm sein Gegner erscheint und sogar wenn es klar liegt, dass er seinen Gegner leicht überwältigen kann. Wenn er gegen diesen Grundsatz handelt, wird er seinen Gegner niemals von seiner Niederlage überzeugen, welch rohe Gewalt er auch angewandt hat. Es ist unbedingt notwendig, Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass der Weg, den Gegner durch Beweise zu überzeugen nicht der ist; irgendeinen Vorteil ihm gegenüber auszunutzen, sei es den der Kraft, des Wissens oder des Reichtums, sondern ihn zu überzeugen durch unwiderlegliche Regeln der Logik. Die Lehre, dass Überredung und nicht Zwang wirksam ist – dies ist wertvoll im praktischen Leben; lernen wir es durch Randori.
Wir lehren den Lernenden, wenn er einen Kunstgriff anwendet, um seinen Gegner zu überwältigen, nur soviel Kraft anzuwenden, wie unbedingt nötig ist für den fraglichen Zweck, wobei er genau abwägt, dass nicht zu viel und nicht zu wenig Kraft verwandt wird. Es gibt nicht wenige Fälle, in denen der Fehler gemacht wird, bei einem Unternehmen zu weit zu gehen, weil man nicht weiss, wann man aufhören muss, und gekehrt.
Um noch ein weiteres Beispiel zu nehmen: Im Randori lehren wir den Schüler, dass er, um den Sieg über einen wild erregten Gegner zu erringen, ihm nicht mit aller Kraft Widerstand leisten soll, sondern dass er mit ihm spielt bis seine Wut verraucht.
Die Nützlichkeit dieser Methode für das tägliche Leben ist augenfällig. Jedermann weiss, dass keine Vernunftgründe etwas nützen, wenn wir es mit jemandem zu tun haben, der aufs äusserste erregt ist. Alles, was man in solch einem Falle tun kann, ist abzuwarten bis seine Wut sich legt. All diese Lehren erfassen wir beim Üben des Randori. Ihre Anwendung im täglichen Leben ist ein interessantes Studium und ist vor allem für junge Leute höchst wertvoll als eigene geistige Übung. Ich will meine Ausführungen über die geistige Seite von Judo beschliessen, indem ich kurz auf die vernünftigen Methoden der Ausbildung des Wissens und der geistigen Kraft komme. Wenn wir genau die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse beobachten, sehen wir überall wie wir unsere Energie töricht bei der Erlangung von Wissen verausgaben. Unsere ganze Umgebung gibt uns fortgesetzt Möglichkeiten nützliches Wissen zu erwerben. Aber meist versäumen wir es, diese Gelegenheiten wahr zu machen. Wählen wir wirklich unsere Bücher, Zeitschriften und Zeitungen gut aus? Finden wir nicht oft, dass unsere Energie, die für die Sammlung nützlichen Wissens hätte benutzt werden können, oft für solches Wissen verbraucht wird, das für uns selbst und auch für die Gesellschaft schädlich ist.
Ausser der Erwerbung nützlichen Wissens, müssen wir versuchen, unsere geistigen Kräfte zu erhöhen, z. B. Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Beobachtung; Urteil, Überlegung, Vorstellungsgabe usw. Aber dies sollten wir nicht dem Zufall überlassen, sondern wir sollten dies in Übereinstimmung mit psychologischen Gesetzen tun, so dass das Verhältnis dieser geistigen Kräfte untereinander harmonisch wird. Nur bei getreuester Befolgung des Prinzips der grössten Wirksamkeit – das ist Judo – können wir das Ziel erreichen, unser Wissen und unsere geistige Kraft auf vernünftige Weise zu vermehren. Ich will jetzt über die sittliche Seite vom Judo sprechen. Es ist nicht meine Absicht, über die moralische Erziehung zu reden, die Schülern in dem Schulraum gegeben wird, wie die Beobachtung der üblichen Höflichkeitsregeln, Mut und Ausdauer, Freundlichkeit und Respekt vor anderen, Gerechtigkeit und „fair play“ welches so sehr im athletischen Sport in der ganzen Welt betont wird. Die Ausbildung in Judo hat in Japan eine besondere moralische Bedeutung, weil Judo mit anderen kriegerischen Übungen von unseren Samurai, die einen hohen Ehrbegriff hatten, ausgeübt wurde, deren Geist uns durch Judo überliefert worden ist. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen erklären, wie das Prinzip der grössten Wirksamkeit uns dabei hilft, die moralische Führung zu verbessern. Mancher ist gelegentlich sehr erregbar und geneigt sich über Kleinigkeiten zu erregen.
Aber wenn man begreift, dass erregt zu sein, einen unnötigen Verlust an Energie bedeutet und oft einem selbst oder anderen schaden kann, so wird der Schüler von Judo ein solches Verhalten vermeiden. Mancher ist gelegentlich niedergeschlagen auf Grund von Enttäuschungen, ist traurig und hat keine Lust zu Arbeiten. Ein solcher fühlt sich durch Judo veranlasst, herauszufinden, welches der beste Weg ist, den er beschreiten kann. Solch ein niedergeschlagener Mann scheint mir in derselben Lage zu sein, wie einer der auf der Höhe des Erfolges ist. In beiden Fällen gibt es nur einen Weg den er beschreiten kann, das ist der, den er selbst als den besten in diesem Zeitpunkt erkennt. So kann man sagen, dass die Lehre von Judo einen aus der Tiefe der Verstimmung in ein Stadium energischer Tätigkeit mit einer frohen Hoffnung in die Zukunft führen kann. Dieselbe Überlegung trifft auf jemanden zu, der unzufrieden ist. Unzufriedene Leute sind oft schlechter Laune, machen andere verantwortlich, ohne sich genügend um ihren eigenen Beruf zu kümmern. Die Lehre von Judo wird solchen Leuten verständlich machen, dass ihr Verhalten gegen das Prinzip der grössten Wirksamkeit verstösst und wird Ihnen klarmachen, dass sie mit der getreuen Befolgung dieses Prinzips sehr viel heiterer werden. So ist die Lehre von Judo auf die verschiedensten Arten für eine moralische Lebensführung von Wert.
Schliesslich möchte ich noch einige Worte über die Gefühlsseite vom Judo sagen. Wir kennen alle das angenehme Gefühl, das uns unsere Muskeln durch Übung geben, wir finden es angenehm, Fortschritte beim Gebrauch unserer Muskeln zu machen und ebenso erfreulich ist für uns die Empfindung der Überlegenheit über andere beim Kampf. Aber zu diesen angenehmen Empfindungen kommt noch die weitere aus den schönen Stellungen und Bewegungen, einerlei, ob man sie selbst ausführt oder bei anderen sieht. Die ästhetische Seite vom Judo besteht eben in der Übung und Beobachtung solcher Bewegungen, die gleichzeitig Symbole verschiedener Ideen sind.
Ich nehme an, Sie sehen nun, was Judo tatsächlich bedeutet im Gegensatz zu Jiu-Jitsu unserer Ritterzeit.
Wenn ich nun in einer kurzen Form zusammenfasse, worüber wir gesprochen haben, so möchte ich es folgendermassen resümieren: Judo ist Studium und eine Übung von Geist und Körper, die für die Führung des Lebens und aller Angelegenheiten gilt. Aus der Übung der verschiedenen Methoden von Angriff und Verteidigung kam ich zu der Überzeugung, dass alles von der richtigen Anwendung des einen grossen Prinzips abhängt: was immer das Ziel ist, es kann am besten erreicht werden durch den höchst wirksamen Gebrauch von Geist und Körper für diesen Zweck.
Ebenso wie dieses Prinzip auf die Methoden von Angriff und Verteidigung angewendet Jiu-Jitsu bedeutet, so bedeutet dasselbe Prinzip auf körperliche, geistige und sittliche Kultur angewendet, das Wesen vom Judo.
Wenn die wirkliche Bedeutung dieses Prinzips erkannt ist, kann es auf alle Seiten des Lebens und der Tätigkeit angewendet werden und befähigt uns ein würdiges und vemunftgemässes Leben zu führen. Das wirkliche Verständnis dieses Prinzips muss nicht unbedingt durch die Übungen in Angriff und Verteidigung erlangt werden, aber ich selbst kam zum Verständnis dieser Ideen durch die Übung in diesen Methoden.
Dieses Prinzip der grössten Wirksamkeit in seiner Anwendung auf das gesellschaftliche Leben ebenso wie in seiner Anwendung auf Geist und Körper verlangt vor allem Ordnung und Harmonie unter seinen Mitgliedern und diese kann nur durch gegenseitige Hilfe und Nachsicht erreicht werden, die zu allgemeiner Wohlfahrt und Glück dienen.
Das letzte Ziel vom Judo ist also, in den Geist eines jeden Respekt für das Prinzip der grössten Wirksamkeit einzupflanzen und so allgemeine Wohlfahrt und Glück zu verbreiten. Betrachten wir den tatsächlichen gesellschaftlichen Zustand über die ganze Welt hin. Trotz der Tatsache, dass Ethik in allen ihren Formen (religiöser, philosophischer oder überlieferter Art) dazu da ist, das gesellschaftliche Verhalten der Menschen zu verbessern und einen idealen Zustand herbeizuführen, so zeigen uns die Tatsachen fast das Gegenteil. Wir sehen Laster, Streitigkeiten und Unzufriedenheit in jeder gesellschaftlichen Klasse von der höchsten bis zur niedrigsten. Während wir eine gesunde und ordentliche Lebensführung schon in der Schule gelehrt bekommen, neigt fast jeder dazu diese Regeln zu missachten.
Die tatsächlichen Verhältnisse beweisen, dass unserer Gesellschaft etwas fehlt, das ans Licht gebracht und allgemein anerkannt werden muss und das die jetzige Gesellschaft neu formen könnte und der Welt grösseres Glück und mehr Zufriedenheit brächte. Das ist die Lehre der grössten Wirksamkeit und allgemeiner Wohlfahrt und Glück.
Ich will damit nicht sagen, dass unsere alten überkommenen moralischen und sittlichen Vorschriften weniger beobachtet werden müssen. Indessen man lässt diese Vorschriften ebenso viel geachtet wie bisher aber man füge zu ihnen unser Prinzip der grössten Wirksamkeit und allgemeinen Wohlfahrt hinzu. Dies sage ich mit allem Nachdruck, weil in unserem Zeitalter der Kritik und der neuen Ideen jede neue Lehre einen unbestreitbaren Vernunftsgrund haben muss, wenn sie sich durchsetzen will. Jemand, der nachdenkt, sagt heutzutage nicht: „Weil ich dies oder jenes glaube, deswegen musst Du es auch glauben“ oder ich kam zu diesem oder jenen Schluss durch meine eigene Überlegung, deswegen musst Du zu demselben Schluss kommen“. Was man behauptet, Muss auf Tatsachen gegründet sein oder auf einer vernünftigen Überlegung, die kein Gesunder verneinen oder bezweifeln kann.
Sicherlich kann niemand das Prinzip verneinen: „Was auch das Ziel ist, es kann am besten erreicht werden durch den höchsten oder wirksamsten Gebrauch von Geist und Körper für diesen Zweck.“ Ebenso kann niemand bestreiten, dass nur durch Streben nach allgemeiner Wohlfahrt und Glück jedes Mitglied der Gesellschaft von Uneinigkeit und Streit abgehalten werden kann und in Frieden und Wohlfahrt lebt. Vermutlich ist es die allgemeine Anerkennung dieser Tatsachen, dass die Menschen soviel über Wirksamkeit und wissenschaftliche Organisation reden. Hinzu kommt, dass das Prinzip von Leistung und Gegenleistung immer mehr der bestimmende Faktor im Leben der Menschheit wird. Es ist doch wohl das Prinzip der allgemeinen Wohlfahrt und des Glücks, das so allgemein anerkannt wurde, dass man den Völkerbund gegründet hat und die Grossmächte der Welt zusammenkamen, um Rüstungsbeschränkungen zu vereinbaren. Diese Tatsachen bedeuten auch eine klare Anerkennung der dringenden Notwendigkeit von Wirksamkeit und allgemeiner Wohlfahrt und Glück. Solche Bestrebungen müssen durch die Erziehung in jedem Lande gefördert werden.
Jigoro Kano